Markus Groß
Carl-Langhans-Str. 8
40789 Monheim
Wenn Kalender plötzlich zu Streichlisten werden und Pläne zu Fußnoten, sucht man sich Bilder, die das Unfassbare greifbar machen. So kam mir irgendwann der Gedanke an die poetischen, manchmal rätselhaften Jahresnamen, die in China seit Jahrhunderten durch die Zeit wandern: „Jahr des Drachen“, „Jahr des Ochsen“, „Jahr der Glückseligkeit“. Klingt nach Ordnung, nach Zyklus, nach etwas, das größer ist als wir. 2020 fühlte sich dagegen an wie ein aus dem Takt geratenes Metronom: ein Jahr des Abstandes, ein Jahr der verschobenen Startschüsse, ein Jahr der stillen Stadien. Und doch war es auch ein Jahr, das Dinge scharfstellte, die sonst im Lärm untergehen. Es hat uns den Luxus genommen, den wir Training nennen – und uns gleichzeitig gezeigt, wie sehr wir ihn lieben.
„Social Distancing“ – zwei Worte, die zu einer Maßeinheit wurden. 1,5 bis 2 Meter Luft zwischen Körpern, zwischen Stimmen, zwischen Atemzügen. Es ist seltsam, wie schnell man anfängt, Distanzen zu schätzen, ohne ein Maßband in der Hand zu halten. Der Blick lernt das, die Schultern merken es, der Schritt passt sich an. Wenn der Abstand nicht geht, dann Maske. Kein Schild, kein Panzer, keine Heldenrüstung – sondern eine textile Erinnerung daran, dass Schutz in diesem Fall heißt, den anderen zu schützen. Das ist eine Umkehrung vieler Gewohnheiten: Wir lernen, Rücksicht als aktive Handlung zu begreifen. Für das Training, für den Alltag, für das Miteinander.
Es war der zweite Anlauf, dieselbe Distanz, ein anderes Terrain, neue Variablen: Ironman 70.3 Kraichgau – 1,9 km Schwimmen, 90 km Rad, 21,1 km Laufen. Die große Überschrift blieb gleich, der Untertitel lautete diesmal: hügeliger, heißer, härter. Schon bei der Anmeldung hatte ich mir eingeredet, dass die kürzere Anfahrt im Vergleich zu Rügen vieles einfacher machen würde. Weniger Reisestress, mehr Fokus, weniger Logistik. Die Realität nahm diesen Optimismus freundlich zur Kenntnis und legte mir dann doch ein paar Steine in den Weg – beginnend mit der Hotelsuche, die ich großzügig delegiert hatte: an den Zufall.
Ich tat, was viele tun, wenn die guten Unterkünfte schon weg sind: Ich griff zur „sicheren Bank“ und buchte eines der Partnerhotels des Veranstalters. In der Beschreibung stand dieser Satz, der in meinem Kopf wie eine Beruhigungspille wirkte: „Liegt optimal an der Radstrecke.“ Heute lache ich zärtlich über meine damalige Naivität. Eine Radstrecke, die 90 Kilometer lang ist, bietet eine erstaunlich große Auswahl an „optimalen Lagen“. Mein Hotel lag tatsächlich an der Strecke – allerdings an einem Abschnitt, der mir für morgens, fürs Einchecken, fürs Pendeln zwischen zwei Wechselzonen so gar nichts nützte. Es war ein nettes Haus, die Zimmer sauber, das Frühstück sportlerfreundlich, die Rezeption auf Triathlon eingestellt, nur eben… weit. Beim Frühstück erfuhr ich, dass es eine ganze Reihe Mitathlet:innen ähnlich erwischt hatte. Wir nickten uns zu wie Menschen, die auf denselben Werbeslogan hereingefallen waren.
Ich weiß gar nicht mehr genau, welcher Gedanke damals den Ausschlag gegeben hat. Vielleicht war es diese Mischung aus Respekt und Faszination, die der Name „Ironman“ auslöst. Vielleicht die Sehnsucht, mein „erstes Mal“ auf der Mitteldistanz nicht irgendwo auf einer Wiese mit Startnummer aus dem Laserdrucker zu erleben, sondern unter einem Zielbogen, der seit Jahrzehnten Synonym für großen Triathlonsport ist. Sicher ist: Eigentlich war das Projekt schon zwei Jahre früher avisiert und grob geplant – dann kam das Leben dazwischen, wie es das manchmal tut. Aber irgendwann war der Moment da: Rügen, 70.3, Startnummer buchen, Kalender blocken, Training sortieren. Ich hätte mir ganz gewiss eine kleinere Veranstaltung aussuchen können, etwas „zum Hineinschnuppern“, übersichtlicher, weniger Logistik, weniger Glanz. Aber genau das wollte ich nicht. Ich wollte, dass es sich „anfühlt“ – professionell, groß, dicht organisiert, mit allen Lichtern und Schatten, die so ein Event mit sich bringt. Und ja: Man bezahlt ein Stück weit für die Marke. Aber man bekommt eben auch diese Bühnenerfahrung, die so schwer zu beschreiben ist, bis man selbst mit nassen Haaren und weichen Beinen über den Teppich läuft.
Die Fahrt nach Rügen stand als erstes dick im Kalender. Geografisch bin ich zugegeben kein wandelnder Atlas; 800 Kilometer klingen abstrakt, bis das Navi sie in Stunden, Tankstopps und Staus übersetzt. Also Rad sorgsam auf den Fahrradanhänger, Tasche mit Werkzeug und Ersatzteilen griffbereit, Snacks und Wasser vorn im Auto – und los. Autobahn, Baustellen, dieser typische Reise-Rhythmus zwischen Podcast und Stille. Bis man die Brücke zur Insel nimmt, ist alles nur Transport. Ab der Brücke wird aus der Fahrt Anreise: Der Blick wird weiter, das Licht irgendwie heller, die Gedanken geerdeter. Der erste kleine Dämpfer wartete am Hotel: Partnerhotel des Veranstalters – dachte ich, da ist nun alles auf Triathleten eingestellt. An der Rezeption dann die höfliche Bitte, mein Rad im allgemeinen Radkeller abzustellen. Ich erklärte (freundlich, aber bestimmt), dass mein Rad nicht für einen Gemeinschaftskeller gedacht ist, weder versicherungstechnisch noch vom Bauchgefühl. Nach kurzer Rücksprache durfte ich es mit aufs Zimmer nehmen – so wie im Laufe des Abends offenbar alle anderen auch. Der erste Eindruck: professionell, aber nicht immer passgenau – eine Lektion, die sich durch das Wochenende ziehen sollte.
Was ist überhaupt ein 70.3. Ironman, wurde ich gefragt? Für die Meisten – so auch bei mir bis vor etwa zwei Jahren – ist der Begriff Ironman synonym für den Sport Triathlon. Dem ist allerdings nicht so. Sicherlich ist der Ironman auf Hawaii der Grundstein des Triathlon Sports, allerdings ist heute Ironman primär ein Markenbegriff für eine Triathlonserie. Grundsätzlich unterscheidet man beim Triathlon zwischen der Sprint-, Kurz- (olympischen), Mittel-/Halb- und der Langdistanz. Das was alle unter Ironman verstehen ist zumeist die Langdistanz über 3,8 km Schwimmen, 180,1 km Radfahren und 41,195 km Laufen; Zusammen also eine Strecke von rund 226 km. Die Mittel- oder auch Halbdistanz ist folgelogisch die Hälfte davon, also 1,9 km Schwimmen, rund 90 km Rad und etwa 20 km Laufen. Und wo kommt jetzt die 70.3 her? Das liegt daran, dass beim Ironman die Distanz primär in Meilen angegeben wird und rund 113 km rechnerisch 70.3 Meilen sind.
OK, also hatte ich mir für 2017 auf die Fahne geschrieben eine Halbdistanz zu absolvieren, nachdem ich 2016 mit einer olympischen Distanz abgeschlossen hatte. Also zunächst einmal auf die Suche gehen, für welchen Wettkampf ich mich hier anmelden soll. Mitteldistanzen gibt es ja eine ganze Menge, aber irgendwie hat es mich schon gereizt „etwas“ mit Ironman zu machen. Die meisten werden mit dem 70.3 nichts anzufangen wissen und dann bleibt nur im Kopf „boah, der hat nen Ironman gemacht“. Da ich für den ersten Start auch den logistischen Aufwand reduzieren wollte, sollte es schon eine Veranstaltung in Deutschland oder notfalls an den angrenzenden Ländern sein. Damit war die Auswahl schon mal deutlich überschaubarer. Beinahe wäre ich ja in Mallorca als 17ten Bundesland gelandet, aber die Veranstaltung im Mai war mir von der Vorbereitungszeit im kalten Deutschland zu früh. Also ist meine Wahl auf den 70.3 Ironman im September in Rügen gefallen. Etwas Bauchschmerzen hatte ich ja schon wegen dem Schwimmen im Meer mit Salzwasser und Wellen, aber wer nix wagt...
Markus Groß
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